Liebe Schachfreunde
Wie konnte es kommen, dass ein Neuling in der damaligen Schachszene,
nämlich José Raoul Capablanca, den stärksten und turniererfahrenen
Spieler der USA, Frank Marshall in einem Match des Jahres 1909 nicht
nur besiegen, sondern gar zerschmettern konnte. Die Beantwortung
dieser Frage hat mich schon lange gereizt. Deshalb habe ich alle
Partien genauer unter die Lupe genommen und auch kommentiert. Diese
kommentierten Partien werde ich sporadisch hier ins Forum stellen.
Wie immer wäre ich für Anregungen und Verbesserungsvorschläge
aus der Community dankbar.
Bisher publizierte Partien1)
http://forum.computerschach.de/cgi-bin/mwf/topic_show.pl?pid=48825#pid488252)
http://forum.computerschach.de/cgi-bin/mwf/topic_show.pl?pid=48905#pid489053)
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http://forum.computerschach.de/cgi-bin/mwf/topic_show.pl?tid=4634Freundliche Grüsse
Kurt
Stellung nach 18.La3, Schwarz steht gut
Stellung nach 24...g6; Weiss verpasst 25.Da4 +-
Schluss-Stellung
9. Partie unkommentiert, nachspielbar[Event "m"]
[Site "New York"]
[Date "1909.05.09"]
[Round "10"]
[White "Capablanca, Jose"]
[Black "Marshall, Frank"]
[Result "1/2-1/2"]
[ECO "C63"]
[EventDate "1909.05.09"]
[PlyCount "98"]
[Annotator "Utzinger,K"]
[Spielstand "6,5-3,5"]
1. e4 e5 2. Nf3 Nc6 3. Bb5 f5 4. Nc3 Nf6 5. Qe2 Nd4 6. Nxd4 exd4 7. exf5+
Be7 8. Ne4 O-O 9. Nxf6+ Bxf6 10. O-O d5 11. Qh5 c5 12. Be2 Re8 13. Bg4 d3
14. cxd3 b6 15. Rb1 Ba6 16. Qh3 Bd4 17. b3 Qf6 18. Ba3 Re7 19. b4 Rae8 20.
Qf3 Qe5 21. bxc5 bxc5 22. g3 Rf7 23. Rbc1 c4 24. Qd1 g6 25. dxc4 dxc4 26.
Re1 Qxe1+ 27. Qxe1 Rxe1+ 28. Rxe1 h5 29. Re6 hxg4 30. Rxa6 Bb6 31. f6 Rd7
32. Bb4 Rd5 33. Bc3 Rf5 34. h3 Bxf2+ 35. Kg2 Bb6 36. hxg4 Rf2+ 37. Kh3 g5
38. Ba5 Kf7 39. Bxb6 axb6 40. Ra7+ Kxf6 41. Rd7 b5 42. Rd6+ Ke7 43. Rd5 b4
44. Rxg5 Rxd2 45. Rb5 Rb2 46. Rc5 c3 47. a3 bxa3 48. Rxc3 a2 49. Ra3 Kf6
1/2-1/2
9. Partie kommentiert[Event "m"]
[Site "New York"]
[Date "1909.05.09"]
[Round "10"]
[White "Capablanca, Jose"]
[Black "Marshall, Frank"]
[Result "1/2-1/2"]
[ECO "C63"]
[EventDate "1909.05.09"]
[PlyCount "98"]
[Annotator "Utzinger,K"]
[Spielstand "6,5-3,5"]
{Ein interessanter Kampf, bei dem Weiss mit dem Remis mehr als zufrieden
sein musste. }
1. e4 e5 2. Nf3 Nc6 3. Bb5 f5 4. Nc3 Nf6 5. Qe2 Nd4 6. Nxd4 exd4 7. exf5+
Be7 8. Ne4 O-O 9. Nxf6+ Bxf6 10. O-O d5
{Bisher eine Wiederholung der 2. Matchpartie, welche zugunsten von
Capablanca ausging. Offenbar hat Marshall irgendwo eine Verbesserung
in petto. }
11. Qh5
{Damit weicht Capablanca von der 2. Partie mit 11.Ld3 ab und laesst
sich eine moegliche Verbesserung von Marshall nicht zeigen. }
11. ... c5 12. Be2 Re8 13. Bg4 d3
{! Eine gute Fortsetzung, welche die Harmonie des gegnerischen Aufbaus
gehoerig durcheinander bringen will. }
14. cxd3
{Lieber eine schlechte Bauernstruktur, als sich mit 14.c3 einmauern,
mag sich Capablanca zu Recht gesagt haben. }
14. ... b6
{Mit der Absicht, den weissfeldrigen Laeufer nach a6 zu spielen, wo er
eine schoene Diagonale hat. Eine interessante Alternative war
14...Ld7, womit Schwarz sich fuer seine Dame auch den Zugang zum
Damenfluegel via b6 oder a5 noch offen gelassen haette. Solche
Entscheide (b6 oder Ld7) im Mittelspiel gehoeren zu den schwierigsten
Aufgaben eines Schachspielers. }
15. Rb1 Ba6 16. Qh3
{Verteidigt den angegriffenen d-Bauer}
16. ... Bd4
{Hier steht der Laeufer gut und Schwarz plant, seine Dame nach f6 zu
bringen mit anschliessender Verdoppelung der Tuerme auf der e-Linie;
bestimmt ist das ein gesunder Plan, der vielleicht dem weniger klaren
16...Dd7 mit der Idee, die Dame nach b5 oder a4 zu fuehren,
vorzuziehen ist. Eine beachtenswerte Alternative bestand auch in
16...Dd6 }
17. b3 Qf6 18. Ba3
{Capablanca stellt die Verbindung der Tuerme sicher und bereitet b3-b4
mit anschliessender Oeffnung der b-Linie vor. Schwarz steht gut, hat
es aber schwer, Fortschritte zu machen, denn momentan sind nirgends
Einbruchspunkte fuer die schwarzen Figuren ins gegnerische Lager zu
finden. }
18. ... Re7
{Computerprogramme haben eine Vorliebe fuer den interessanten Damenzug
18...Dh6, wonach entweder - bei Verzicht auf Damentausch - der
d2-Bauer faellt, oder andererseits - nach dem Damentausch - der
d3-Bauer fallen wird. Und tatsaechlich: auch objektiv betrachtet
stellt 18...Dh6 eine gute Fortsetzung dar, wonach Schwarz einen Hauch
besser steht. Allerdings ist nicht anzunehmen, dass Marshall diese
Moeglichkeit nicht in Betracht gezogen hat. Vielmehr ist davon
auszugehen, dass er der Ansicht war, besser zu stehen und er
demgemaess auf Gewinn spielen wollte. }
19. b4 Rae8 20. Qf3 Qe5
{Zentralisierung mit Schutz von d5 kann nicht schaden, obwohl hier
auch 20...Te5 einen guten Eindruck macht. }
21. bxc5 bxc5 22. g3 Rf7
{Mit der moeglichen Absicht, einmal g6 zu spielen.}
23. Rbc1
{Leider ist das Entgegenstellen der Tuerme fuer Weiss auf der e-Linie
nicht moeglich, denn Schwarz gibt die Dame fuer zwei Tuerme und spielt
anschliessend g6 mit Vorteil fuer ihn. Ueberhaupt erweist sich die
weisse Stellung als ueberraschend widerstandsfaehig und die optisch
fuer Schwarz eher besser aussehende Position kann deshalb leicht
ueberschaetzt werden. }
23. ... c4
{?! An der Guete dieses Zuges zweifle ich. Marshall agiert aktiv und
nach dem Prinzip der Brechstange, er will nach Bauerntausch auf c4
seinen Laeufer gefaehrlich auf die sich oeffnende Diagonale a8-h1
bringen. Solider und naehere Untersuchung verdient 23...h5. }
24. Qd1
{Wer die Wahl hat, hat die Qual; Capablanca liebt keine Experimente
mit 24.dxc4 oder 24.Kg2, sondern zieht seine Dame auf die Grundlinie
zurueck, geht aus der Fesslung des schwarzen Tf7 und ermoeglicht
Tf1-e1 und auch einen Ausflug der Dame an den Damenfluegel. }
24. ... g6
{?! Das duenkt mich nun aber doch des Guten zuviel und war wohl
besser durch 24...Lb5 zu ersetzen, was der weissen Dame das wichtige
Feld a4 unzugaenglich gemacht haette. }
25. dxc4
{? Schade, dass Weiss hier die exzellente Moeglichkeit 25.Da4 mit
realen Gewinnchancen nicht gepackt hat. }
25. ... dxc4 26. Re1 Qxe1+ 27. Qxe1 Rxe1+ 28. Rxe1
{Endlich hat sich Weiss vom gegnerischen Druck auf der e-Linie
befreien koennen, und schliesslich wird Weiss auch stets mit einem
Mehrbauer verbleiben, wahrscheinlich Grund genug für Capablanca, so
und nicht anders zu spielen.}
28. ... h5 29. Re6
{?! Mit 29.Te8+ Kg7, 30.Lh3 haette Weiss den Gegner noch lange quaelen
koennen. Nach dem Textzug kann Marshall etwas aufatmen und sich vom
gegnerischen Druck befreien.}
29. ... hxg4 30. Rxa6 Bb6
{! Mag Capablanca diesen, dem weissen Turm die sechste Reihe
sperrenden Zug uebersehen haben? }
31. f6
{Nichts zu holen ist mit 31.fxg6 Tf3! und Schwarz hat leichten
Ausgleich. }
31. ... Rd7
{Druck auf d2 und viel staerker als 31...Txf6, 32.Lc5 usw. }
32. Bb4 Rd5
{Plant den Angriff auf die weisse Schwaeche f2 durch Tf5. }
33. Bc3 Rf5 34. h3 Bxf2+ 35. Kg2 Bb6 36. hxg4 Rf2+ 37. Kh3 g5
{Marshall hat sich fabelhaft verteidigt und wenn Weiss nicht aufpasst,
kann er gar in ein Mattnetz geraten. }
38. Ba5
{Aber ja nicht versuchen, den schwarzen c4-Bauern zu kassieren, denn
nach 38.Ta4? Te2!, 39.Txc4 Lg1! wird Weiss mattgesetzt.}
38. ... Kf7 39. Bxb6 axb6 40. Ra7+
{Noch einfacher ist 40.Txb6 usw. }
40. ... Kxf6 41. Rd7 b5 42. Rd6+ Ke7
{Auch der Vormarsch des Koenigs ins Zentrum aendert nichts am
Remischarakter der Stellung. }
43. Rd5 b4 44. Rxg5 Rxd2 45. Rb5 Rb2
{Nun droht c4-c3 mit schwarzem Gewinn. }
46. Rc5
{Der einzige Weg zum Remis. }
46. ... c3 47. a3 bxa3 48. Rxc3 a2 49. Ra3 Kf6 1/2-1/2