Liebe Schachfreunde
Wie konnte es kommen, dass ein Neuling in der damaligen Schachszene,
nämlich José Raoul Capablanca, den staerksten und turniererfahrenen
Spieler der USA, Frank Marshall in einem Match des Jahres 1909 nicht
nur besiegen, sondern gar zerschmettern konnte. Die Beantwortung
dieser Frage hat mich schon lange gereizt. Deshalb habe ich alle
Partien genauer unter die Lupe genommen und auch kommentiert. Diese
kommentierten Partien werde ich sporadisch hier ins Forum stellen.
Wie immer wäre ich für Anregungen und Verbesserungsvorschläge
aus der Community dankbar.
Freundliche Grüsse
Kurt
Stellung nach 15...Kf7 und bevor 16.Tac1 Thf8! mit Ausgleich
Schluss-Stellung, Remis
Partie ohne Kommentar, nachspielbar
Event:
Ort:
Datum:
Weiss:
Schwarz:
Ergebnis
Board
Partie kommentiert[Event "m"]
[Site "New York"]
[Date "1909.04.19"]
[Round "1"]
[White "Marshall, Frank"]
[Black "Capablanca, Jose"]
[Result "1/2-1/2"]
[ECO "D33"]
[EventDate "1909.04.19"]
[PlyCount "60"]
[Annotator "Utzinger,K"]
[Spielstand "0,5-0,5"]
{Aus der Aufmerksamkeit, die der Student Capablanca im
Manhattan-Schachklub in New York mit seiner Virtuositaet erregt hatte,
entwickelte sich allmaehlich das Interesse an einer Begegnung zwischen dem
damaligen Meister der Vereinigten Staaten und dem neuen Matador. Der
Zweikampf kam zustande, nur dachten die Organisatoren mehr an eine Reihe
lebendiger und wertvoller Partien, als an ein ernsthaftes Kraeftemessen,
denn dafuer waren die Chancen auf dem Papier zu ungleich. Auf der einen
Seite ein Meister mit hervorragendem Ruf, der vor nicht allzu langer Zeit
die groessten der Grossen geschlagen hatte - Cambridge Springs 1904 -, ein
Kombinationsspieler ersten Ranges, gewappnet mit grosser, in dutzenden
Turnieren erworbenen Erfahrung. Auf der anderen Seite ein Neuling, der
zwar eine Anzahl glanzvolle und auch positionelle Leistungen fuer sich
buchen konnte, der aber noch nie zuvor einem Schachmeister von Format
begegnet war (Euwe/Prins). }
1. d4 d5 2. c4 e6 3. Nc3 c5
{Capablanca erklaerte, dass er eine Partie Rubinstein-Mieses gesehen
habe, in der letzterer die Tarrasch-Verteidigung anwandte, und er sei
von Mieses Spiel so beeindruckt gewesen, dass er beschloss, sie gegen
Marshall anzuwenden (Golombek,H). }
4. cxd5 exd5 5. Nf3 Nc6 6. g3 Be6
{Eine Raritaet gegenueber den heute ueblicheren Zuegen 6...Sf6 oder
6...c4; allerdings frage ich mich, was an diesem normal wirkenden
Entwicklungszug falsch sein soll. Selbst der Kommentar von Harry
Golombek "Der Zug von Mieses; es ist kein sonderlich guter, weil der
Laeufer auf e6 eine reine Defensivrolle spielt." vermag mich nicht von
der Meinung abzuhalten, dass der Zug durchaus spielbar ist. }
7. Bg2 Nf6 8. Bg5
{Weitaus ueblicher ist heute 8.0-0 Le7 9.dxc5 Lxc5 10.Lg5 += mit
geringem Plus fuer Weiss (Utzinger,K). }
8. ... h6 9. Bxf6 Qxf6
{Nach nur neun Zuegen ist es Schwarz gelungen, eine ausgeglichene
Stellung zu erreichen. }
10. O-O cxd4 11. Nb5 Rc8 12. Nfxd4 Nxd4
{Eine Partie Alber-Hausner, Prag 1989 endete Remis nach 12...a6
13.Sxe6 fxe6 14.Sc3 Lb4 15.e4 Lxc3 16.bxc3 dxe4 17.Tb1 b5 18.a4 0-0
19.Lxe4 Tfd8 20.De2 Dxc3 21.Lxc6 Txc6 }
13. Nxd4 Bc5
{Entwickelt mit Tempogewinn die letzte Figur. }
14. Nxe6 fxe6 15. Qa4+ Kf7 16. Rac1
{Ein beachtenswerter Zug waere 16.b4, waehrend auch 16.e4 gut
aussieht, weil 16...d4 mit 17.e5 beantwortet werden kann. Nach dem
zahmen Textzug von Frank Marshall entstehen fuer Schwarz keine
Probleme mehr. }
16. ... Rhf8
{! Eine passende gegen b2-b4 gerichtete Antwort. Und tatsaechlich
scheint 17.b4 Lxf2 18.Txf2 Txc1 19.Lf1 Kg8 20.Txf6 Txf6 21.Dxa7 Tcxf1
22.Kg2 Te1 23.De3 eher zugunsten von Schwarz auszuschlagen. }
17. e3
{Wenn ein Taktiker wie Frank Marshall sich nicht auf b2-b4 einlaesst,
muss was dran sein. }
17. ... Qe7 18. Rc3
{Logisch und Vorbereitung, um die Tuerme auf der c-Linie zu
verdoppeln. Ein anderer Plan bestand darin, mit 18.Lh3 Druck auf e6
auszuueben und je nach der schwarzen Antwort die eigene Dame nach g4
oder f4 und dann e5 zu spielen, was m.E. für Weiss noch ein ganz
leichtes Plus ergeben haette. }
18. ... Rc7 19. Rfc1 Rfc8 20. Qg4 Qf6 21. a3 Bd6 22. Rxc7+ Rxc7 23. Rxc7+
Bxc7
{Die Partie ist verflacht und traegt jetzt schon den Keim des Remis in
sich. Für Capablanca ein Erfolg in der ersten Partie, fuer Marshall
wahrscheinlich eine leichte Enttaeuschung, dass er seinen
unerfahreneren Gegner mit Weiss nicht hatte ueberspielen koennen. }
24. Qb4 Bb6 25. a4 Qe7 26. Qf4+ Qf6 27. Qb4 Qe7 28. Qf4+ Qf6 29. Qb4 Qe7
30. Qf4+ Qf6 1/2-1/2