29. April 2012
Match Capablanca-Marshall (06), PGN, Kommentar
Liebe Schachfreunde
Wie konnte es kommen, dass ein Neuling in der damaligen Schachszene,
nämlich José Raoul Capablanca, den stärksten und turniererfahrenen
Spieler der USA, Frank Marshall in einem Match des Jahres 1909 nicht
nur besiegen, sondern gar zerschmettern konnte. Die Beantwortung
dieser Frage hat mich schon lange gereizt. Deshalb habe ich alle
Partien genauer unter die Lupe genommen und auch kommentiert. Diese
kommentierten Partien werde ich sporadisch hier ins Forum stellen.
Wie immer wäre ich für Anregungen und Verbesserungsvorschläge
aus der Community dankbar.
1. Partie publiziert hier:
http://forum.computerschach.de/cgi-bin/mwf/topic_show.pl?pid=48825#pid488252. Partie publiziert hier:
http://forum.computerschach.de/cgi-bin/mwf/topic_show.pl?pid=48905#pid489053. Partie publiziert hier:
http://forum.computerschach.de/cgi-bin/mwf/topic_show.pl?pid=49078#pid490784. Partie publiziert hier:
http://forum.computerschach.de/cgi-bin/mwf/topic_show.pl?tid=45955. Partie publiziet hier:
http://forum.computerschach.de/cgi-bin/mwf/topic_show.pl?pid=49161#pid49161Freundliche Grüsse
Kurt
Capablanca-Marshall (06), Stellung nach 12...h5?
Capablanca-Marshall (06), Stellung nach 13.h3 und bevor 14...hxg4?, Marshall begeht "Selbstmord"
Capablanca-Marshall (06), Stellung nach 19.De3?! einem zu Unrecht hoch gelobten Zug
Capablanca-Marshall (06), Schluss-Stellung
6. Partie unkommentiert, nachspielbar
Event:
Ort:
Datum:
Weiss:
Schwarz:
Ergebnis
Board
6. Partie kommntiert[Event "m"]
[Site "New York"]
[Date "1909.04.29"]
[Round "6"]
[White "Capablanca, Jose"]
[Black "Marshall, Frank"]
[Result "1-0"]
[ECO "C62"]
[EventDate "1909.04.29"]
[PlyCount "75"]
[Annotator "Utzinger,K"]
[Spielstand "4,5 - 1,5"]
{Ein systematisch aufgebauter und vorzueglich vorgetragener Angriff des
Kubaner. Zuerst wird ein Springer auf f5 postiert, danach werden die
schwarzen Figuren zur Flanke gefuehrt, und schliesslich folgt das
entscheidende Opfer, das den feindlichen Koenig einer toedlichen
Verfolgung preisgibt (Euwe/Prins)}
1. e4 e5 2. Nf3 Nc6 3. Bb5 d6
{Diese solide Fortsetzung wird heute als zu passiv eingestuft und
deshalb nur noch selten gespielt.}
4. c3
{Dieser zurückhaltende Zug ist nicht so stark wie das normale d2-d4;
aber in dieser frühen Phase seiner Entwicklung kannte Capablanca
praktisch keine Eröffnungstheorie. Trotzdem wählt er, sobald die
Vorgeplänkel des Partieanfangs vorbei sind, intuitiv ein System für
den Angriff am Königsflügel, das deutlich an einige Partien von
Steinitz erinnert (Golombek,H).}
4. ... Bg4
{?! Das ist fraglich, denn solange Weiss d4 nicht gezogen hat, bringt
die Fesslung nichts. Die am meisten gewaehlte Fortsetzung ist hier
4...Ld7, aber als beste Wahl gilt 4...g6 }
5. d3
{Gut ist hier auch 5.h3, was den Gegner zur sofortigen Klaerung
zwingt, was er mit seinem Laeufer anstellen will.}
5. ... Be7 6. Nbd2 Nf6 7. O-O O-O 8. Re1
{Als etwas staerker gilt heute 8.h3}
8. ... h6
{Mit der Idee, den Koenigsfluegel vom vom Druck zu befreien und Sf6-h7
nebst Sh7-g5 zu spielen. Das verliert viel Zeit und erlaubt dem
Weissen, seinen Angriff mit alarmierender Geschwindigkeit
voranzutreiben. Ein besserer Plan war 8...a6, 9.La4 b5, 10.Lc2 d5 mit
Gegenchancen auf der d-Linie (Golombek,H). Ein logischer Zug waere
hier auch 8...Sd7, was das Zentrum staerkt und allenfalls f7-f5
vorbereitet (Utzinger,K). }
9. Nf1 Nh7
{Marshall bleibt seinem fragwuerdigen Plan treu; ansonsten kam hier
9...a6 in Frage (Utzinger,K). }
10. Ne3
{Fuehrt den 4. Zug von Schwarz ad absurdum (Golombek,H).}
10. ... Bh5
{Nach Capablanca verdient 10...Ld7 den Vorzug, der zudem schreibt:
"Wenn 10...f5, dann 11.exf5 Lxf5, 12.Sxf5 Txf5, 13.d4 mit Vorteil, und
weiter a) 13...exd4 14.Lxc6 bxc6, 15.Sxd4, wobei zumindest der c-Bauer
gewonnen wird, und bei b) 13...Lf6, 14.Ld3 verliert Schwarz die
Qualitaet." }
11. g4
{! Eine sehr gute Fortsetzung (Utzinger,K). }
11. ... Bg6 12. Nf5
{Setzt sein strategisches Ziel durch. Dieser starke Vorposten kann von
Schwarz nur beseitigt werden, indem er dem Weissen die g-Linie oeffnet
und zum Angriff auf den geschwaechten Koenigsfluegel einlaedt
(Golombek,H).}
12. ... h5
{? Die schwarze Stellung war bedenklich; aber so schwächt er die
Rochadestellung noch mehr. Die beste Verteidigung bestand in 12...Sg5,
13.Kg2 Sxf3, 14.Dxf3 Lg5 mit einer gewissen Befreiung durch Abtausch
(Golombek,H). Natuerlich war 12...Sg5 besser, um eine
Stellungsvereinfachung anzustreben (Capablanca). Nach 12...Sg5, 13.Kg2
Sxf3, 14.Dxf3 Lg5, 15.Th1 Lxc1, 16.Taxc1 Se7, 17.h4 c6 und bei Schwarz
ist alles in Ordnung (Lasker,Em). Das bringt dem Gegner an der Flanke
Nutzen, an der er angreift. Doch Marshall oeffnet selbst die h-Linie,
ueber die er dann mattgesetzt wird (Kasparov,G). }
13. h3
{Nirgends wird erwaehnt, dass auch 13.Lxc6 eine gute Fortsetzung zu
sein scheint, mit der Weiss seinen Vorteil ebenfalls festhalten kann
(Utzinger,K). }
13. ... hxg4
{? Vorzuziehen war 13...Lf6. Der gespielte Zug oeffnet nur die h-Linie
zugunsten des weissen Angriffs. Weiss haette zwar den Tausch frueher
oder spaeter durch einen Zug des Sf3 erzwingen koennen; wozu aber sich
beeilen, diese Moeglichkeit herauszufordern? (Golombek,H). Mir
scheint, dass 13...Lg5, 14.Sxg5 Sxg5, 15.Kg2 Df6 die beste Fortsetzung
darstellt (Utzinger,K). }
14. hxg4 Bg5
{Ich haette dem Zug 14...Sg5 den Vorzug gegeben, obwohl es so
aussieht, dass die Partie nicht mehr zu halten ist (Capablanca). Es
ist schwierig, eine gute Alternative anzugeben, denn beispielsweise a)
14...Sf6, 15.S3h4 Lxf5, 16.Sxf5 g6, 17.Sxe7 Dxe7, 18.Lh6 nebst Kg2 und
Besetzung der h-Linie sieht nicht einladend aus. Aber immerhin scheint
mir dieses Abspiel einiges angenehmer zu spielen fuer Schwarz als die
Folge des Textuges. Wahrscheinlich noch am besten war b) 14...a6, um
klarere Verhaeltnisse zu schaffen entweder nach 15.Lxc6 oder 15.La4 b5
usw. (Utzinger,K). }
15. Nxg5 Nxg5 16. Kg2
{Weiss geht nun daran, die h-Linie mit seinen schweren Figuren zu
besetzen - die Strafe fuer die verfehlten Zuege des h-Bauern
(Golombek,H). In hoeherem Sinn ist die Partie fuer Schwarz wohl schon
verloren (Utzinger,K).}
16. ... d5
{?! Mangels guter Zuege macht man schlechte. Emanuel Lasker plaediert
fuer 16...f6, doch auch das duerfte nach 17.Lxg5 fxg5, 18.Th1 am
Endresultat kaum etwas geaendert haben (Utzinger,K). }
17. Qe2
{Viele Computerprogramme bevorzugen 17.f3 (Utzinger,K). }
17. ... Re8
{?! Die Einleitung eines schwerfaelligen, aber nirgends kritisierten
Turmmanoevers; Marshall will den Turm nach e6 bringen, Meines
Erachtens war die verhaeltnismaessig beste Antwort 17...Se6
(Utzinger,K). }
18. Rh1
{Hier ist die Partie eigentlich schon entschieden. Weiss kann einfach
einen Mattangriff starten (Kasparov,G). }
18. ... Re6
{? Es ist leicht ein Fragezeichen zu setzen, weil hernach die
Qualitaet verloren ginge. Schwer ist es indessen, fuer Schwarz eine
noch befrieigende Verteidigung anzugeben (Utzinger,K). Zahlreiche
Kommentatoren sprachen damals von einer der beruehmten Fallen
Marshalls. Heute ernten derartige "teuflische" Tricks lediglich ein
muedes Laecheln (Kasparov,G). }
19. Qe3
{Ein ueberaus wichtiger Zug, der die Aktivitaet der schwarzen Dame
beschraenkt und gleichzeitig die weisse Dame ins Spiel bringt. Zudem
entsteht in der Position von Schwarz eine schwache Diagonale, die vom
weissen Laeufer berherrscht wird (Capablanca). Golombek gibt hier ein
! und meint, dass nach dem Qualitaetsgewinn 19.Lxg5 Dxg5 20.exd5 Lxf5
21.dxe6 Lxe6 der Angriff auf Schwarz uebergehe, was jedoch einer
Verkennung der Lage zuzuschreiben ist (Utzinger,K). Ein Meisterzug,
indem er f7-f6 erzwingt, schneidet Weiss nicht nur die schwarze Dame
vom Koenigsfluegel ab, sondern ruft ausserdem eine Schwaeche der
Diagonalen a2-g8 hervor (Golombek,H). Offenbar hat sich Golombek durch
den unsachlichen Kommentar des Siegers inspirieren lassen
(Utzinger,K). Bis zu einer gewissen Zeit waren derartige Zuege fuer
Capablanca gut genug. Bei Marshall brauchte er nicht zu rechnen, gegen
Lasker (1921) konnte er sich leichte Fehler leisten, aber bei Aljechin
(1927), wo hoechste Genauigkeit noetig war, hatte er nicht mehr die
Kraft zu komplizierten Berechnungen (Kasparov,G). Eine m.E. zu starke
Kritik von Kasparov (Utzinger,K). }
19. ... f6 20. Ba4
{! Der Laeufer soll auf der von Schwarz geschwaechten Diagonalen
wirken (Golombek,H).}
20. ... Ne7 21. Bb3 c6 22. Qg3 a5
{?! Die Position von Schwarz ist strategisch hoffnungslos, doch wozu
dann noch zusaetzlich den Damenfluegel schwaechen? (Kasparov,G). }
23. a4 Nf7 24. Be3 b6
{Um Lc5 zu unterbinden (Golombek,H). }
25. Rh4 Kf8
{Weiss drohte auf der h-Linie zu triplieren und Sxe7+ nebst Th8+ mit
Eroberung einer Figur folgen zu lassen (Golombek,H). }
26. Rah1 Ng8 27. Qf3
{Der Angriff auf den Bauern d5 zwingt Schwarz dazu, den Springer auf
f5 zu schlagen, was die Position von Weiss zusaetzlich staerkt
(Capablanca). }
27. ... Bxf5
{Anders ist der d-Bauer nicht zu halten; doch nun haben sich frische
Angriffslinien geoeffnet (Golombek,H). }
28. gxf5 Rd6 29. Qh5
{Mit dem klaren Plan, die Dame nach g6 zu bringen und hernach dem
Gegner mit dem Eindringen des Turmes auf h7 den Todesstoss zu
versetzen. Es fuehrten hier bereits mehrere (Gewinn-)Wege nach Rom, u.
a. war 29.Dg3 noch eine Spur staerker (Utzinger,K). }
29. ... Ra7 30. Qg6
{Eine genuegende Verteidigung ist fuer Schwarz nicht mehr zu sehen.}
30. ... Nfh6
{Auf a) 30...Se7 gewinnen sowohl 31.Th8+ als auch 31.Dg3 und b)
30...De8 kann mit 31.Lxb6 +- beantwortet werden, waehrend c) 30...Sg5
mit 31.f4 +- beantwortet wird (Utzinger,K). }
31. Rxh6
{! Schoen und zwingender als das lapidare 31.Lxh6 }
31. ... gxh6
{Die Alternative 31...Sxh6, 32.Lxh6 gxh6, 33.Txh6 aendert nichts am
Ausgang der Partie. }
32. Bxh6+ Ke7
{Noch schlechter war 32...Sxh6, 33.Txh6 usw. }
33. Qg7+ Ke8 34. Qxg8+ Kd7 35. Qh7+ Qe7 36. Bf8
{! Gewinnt noch mehr Material}
36. ... Qxh7 37. Rxh7+ Ke8 38. Rxa7 1-0