Die Einschätzung, dass Materialopfer potentiell mit Punktverlusten (1/4 statt 1/2 Punkt) bestraft würden, trifft nach meinen Erkenntnissen im wesentlichen nicht zu. Fundierte Opfer bringen immer genügend Initiative ein, um einen Materialnachteil vollauf zu kompensieren. Der Gegner ist meistens gezwungen, Material zurückzugeben, um nicht zu verlieren, oder er muss sich in irgendeine Remisschaukel retten, in eine Blockadestellung oder sonst was. Diese Optionen bleiben auch bei Anwendung der 3/4-Punktregel voll erhalten. Verschiedene Fallbeispiele, wie vor allem die Philidorstellung im Turmendspiel, zeigen, dass die Überleitung in ein einfaches Bauernendspiel mit Materialvorteil nicht erzwingbar ist, wenn man nicht gleichzeitig über einen klaren Stellungsvorteil verfügt, der zu nachhaltigem Zugzwangspiel befähigt.
Also alles Fehlalarm... Und im übrigen - soweit hatten Lasker und Réti, die Hauptprotagonisten der geänderten Remisregel, auch schon gedacht, und noch ein bisschen weiter.
Als Beispiel für eine Opferpartie (Bauernopfer) hatte ich vor einiger Zeit mal eine Partie im
ChessBase-Diskussionforum gepostet:
"ICCF Grandmaster 04.07.2015 12:32
Darf man noch opfern? - Natürlich. Man siehe als Beispiel die folgende Morra-Gambit-Partie zwischen
Em. Berg (2539) und
S. Rocha (Portugiesische Mannschaftsmeisterschaft 2013). Die Partie ist kommentiert in der MegaBase enthalten:
1.e4 c5 2.d4 cxd4 3.c3 dxc3 4.Sxc3 Sc6 5.Sf3 d6 6.Lc4 a6 7.0–0 Sf6 8.Lf4 Lg4 9.h3 Lxf3 10.Dxf3 e6 11.Tfd1 Dc7 12.Tac1 Le7 13.Lb3 Tc8 14.Sd5 exd5 15.exd5 Se5 16.De3 Dd7 17.Txc8+ Dxc8 18.Lxe5 0–0 19.Lf4 Dd7 20.Tc1 Ld8 21.Dd4 Te8 22.Db4 Le7 23.La4 b5 24.Lb3 Tc8 25.Txc8+ Dxc8 26.a4 Dc5 27.De1 Kf8 28.Le3 Dc7 29.axb5 axb5 30.Db4 Db7 31.g4 h6 32.Dd4 Sd7 33.De4 Lf6 34.Db4 Da6 35.Lc2 Se5 36.Kg2 Sc4 37.Lc1 g5 38.Ld3 Da1 39.Lxc4 bxc4 40.Dxc4 Lxb2 41.Le3 Lf6 42.Dc8+ Kg7 43.Df5 Dc3 44.De4 Db2 45.Df5 Dc3 46.De4 Db2 47.h4 gxh4 48.Df4 De5 49.Dxh6+ Kg8 50.Kg1 h3 51.Dxh3 ½–½
Weiß opfert im 3. Zug einen Bauern, den er im 18. Zug durch ein typisches vorübergehendes Figurenopfer zurückerhält. Er macht fortan ziemlichen Druck, aber Schwarz hält gut dagegen. Kleine Ungenauigkeiten auf beiden Seiten. Im 38. Zug hätte Weiß - laut Berg - durch b2-b3 (statt 38.Ld3?) und die Folge 38...Da1 39.Lxg5 hxg5 40.bxc4 bxc4 41.Dxc4 einen Bauern gewinnen können mit guten praktischen Gewinnaussichten.
Diese Partie hätte genau so - ohne irgendeine Änderung - nach der 3/4-Punkt-Wertung stattfinden können und hätte dann vermutlich genau so remis geendet, da keine der beiden Seiten einen Vorteil erreichen konnte. Wenn nun Berg 38.b3 mit Bauerngewinn gespielt hätte, wäre es eine offene Frage gewesen, ob dieser zum vollen Punktgewinn, zum 3/4 Punkt oder zum 1/2 Punkt geführt hätte. Auch hier muss ja erst noch von beiden Seiten sehr genau gespielt werden und es ist nicht einfach eine Frage der vielzitierten "Technik", so als ob diese ein Kinderspiel wäre.
Doch zur Hauptaussage zurück: Dass man auf Angriff spielen und opfern kann, wird durch die 3/4-Punkt-Wertung nicht in Frage gestellt."
Wer natürlich irgendwelche spekulativen Opfer im Sinn hat, die letztlich auf Überrumpelung des Gegners abzielen, aber stellungsmäßig nicht fundiert sind, der verdient meines Erachtens zu Recht mit einem 1/4 Punkt wenn nicht gar mit 0 Punkten abgestraft zu werden. Warum sollte sich der ins Remis retten dürfen?