By Ingo Althöfer
Date 2025-09-14 06:59
Edited 2025-09-14 07:05
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** Projekt Delta-Omega **
Ingo Althöfer, September 2025
Die Luft vibrierte leise in der Unterwasserbasis
des Galaktischen Sicherheitsdienstes. Hinter einer
gepanzerten Tür, die nur auf die gleichzeitigen
Handflächen zweier autorisierter Offiziere reagierte,
lag ein Labor, das es offiziell nicht gab. Auf dem
Schild stand: "Hydroakustik". In Wahrheit verbarg sich
dahinter das Projekt Delta-Omega – der Versuch, den
interstellaren Raum mit reiner Mathematik zu kartieren.
Leutnant Tamara Jagellovsk legte die Hand auf den
Scanner. "Guten Morgen, Major."
Cliff Allister McLane trat neben sie, grinste schief
und presste seine Hand daneben. "Ich dachte, wir
hätten heute Routine."
"Das haben wir", sagte Tamara trocken. "Routine in Geheimhaltung."
Die Tür glitt auf. Drinnen summten Positroniken, auf
deren Displays keine Sternkarten, sondern Zahlenfolgen
tanzten: 1, 4, 2, 1 … 7, 22, 11, 34, 17 … Es war ein
schöner, gefährlicher Tanz.
Atan Shubashi, der Navigationsspezialist, hob kurz die Hand.
"Major, Tamara. Wir sind soweit."
Helga Legrelle beugte sich über einen Holo-Emitter, aus dem
ein feines Netz aus Lichtlinien emporstieg. "Die Frogs haben
wieder gesendet. Nicht in Worten. In Zahlen."
Mario de Monti stand am Rand, als hielte er Ausschau nach
einer Partitur. "Und wenn es Musik ist? Eine, die den Raum
zwingt mitzuschwingen."
Hasso Sigbjörnson, groß und ruhig wie eine Werft, steckte den
Kopf aus einem geöffneten Gehäuse. "Wenn es Musik ist, dann
ist unser Antrieb das Orchester. Und ich hätte ungern falsche
Töne im Delta-Raum."
Tamara verschränkte die Arme. "General Lydia van Dyke will
Ergebnisse. Seit Monaten tauchen diese Zahlenfolgen auf.
Immer in der Nähe jener Grenzzonen, wo unsere Patrouillen
verschwinden. Wir müssen verstehen, was die Frogs da tun."
McLane zog die Augenbrauen hoch. "Und ihr glaubt ernsthaft,
dass eine Folge wie wenn n gerade, dann n/2; wenn n
ungerade, dann 3n+1 uns in eine Falle lockt?"
Shubashi lächelte schmal. "Nicht die Regel. Der Resonanzraum,
den sie erzeugt. Jeder Schritt der Folge moduliert eine
Mikroschwingung im Hyperfeld. Es ist ein Subtraktionsspiel
mit dem Universum: Du nimmst Parität, sie addieren Drift."
Helga zoomte in das Holo. Aus Zahlen wurden Spiralen, aus
Spiralen Bahnen. "Ich habe es 'Treppe ohne Stufen' genannt.
Wir fallen die Treppe hinunter, ohne je den Fuß zu setzen
– wenn wir nicht begreifen, welche Stufe dort gedacht ist."
"Also Mathematik als Geländer", sagte de Monti. "Und wenn
das Geländer bricht?"
"Dann greift Overkill", brummte Hasso. "Und das ist kein
Geländer, das ist ein Vorschlaghammer."
Tamara warf McLane einen Blick zu. "Wir fliegen. Ich
habe Angst vorm Fliegen."
"Natürlich fliegen wir", erwiderte er, bereits unterwegs
zur Orion.
Die Orion lag wie ein schwarzer Gedanke im Trockendock. Als
sie den Delta-Raum anwarfen, flammten die Lichter der
Positronik auf – und das Labor unter Wasser wurde ein
fernes Flüstern.
"Zielkoordinaten?", fragte McLane.
"Keine." Shubashi tippte Zahlen ein, wie ein Pianist, der
ein verborgenes Thema aus dem Nichts holt. "Wir lassen uns
von der Folge führen. Aber diesmal mit Sicherungen." Er
aktivierte ein Modul: sigma-Schild. "Es misst die Summe der
Teiler unserer laufenden Zustandszahl. Wenn sigma(n) einen
kritischen Wert überschreitet, brechen wir ab."
"Ich dachte, wir fliegen", stichelte McLane.
"Wir beweisen zuerst, dass wir ankommen", sagte Tamara,
ohne vom Kontrollfeld aufzusehen. "Strenger Modus, Major."
Helga gab die erste Zahlenserie in den Kommunikationspuffer.
Hasso legte die Hand an die Triebwerksregler. De Monti nahm
am Sensorpult Platz und lauschte dem Hintergrundrauschen
des Universums, als wäre es eine Bühne, auf der gleich die
Musik beginnt.
Die Orion glitt in den Delta-Raum. Sterne wurden zu Vektoren,
Weiten zu Werten. Die Folge begann:
17 -> 52 -> 26 -> 13 -> 40 -> …
Die Positronik malte bei jedem Schritt eine neue Krümmung
in das Holo. Es war, als streiche eine unsichtbare Hand den
Raum in sanften Kurven, die in den nächsten Moment kippten.
Man spürte die Parität in den Knochen.
"sigma(40) = 90", murmelte Shubashi. "Noch im Rahmen."
"Ich habe ein Echo", sagte Helga. "Die Frogs schicken eine
zweite Folge. Gleiche Regel, aber moduliert auf Basis 7.
Ihre ungeraden Schritte wirken künstlerisch."
"Künstlerisch?", fragte McLane.
"Sie tanzt", sagte de Monti leise. "Hört ihr den Takt?
7–3–1–7–3–1… Das ist ein Dreierzyklus im Siebener-Modus."
Tamara warf ihm ein Seitenblick zu. "Konzentrieren, Leutnant."
"Ich bin konzentriert. Auf die harmonischen Klassen modulo 7."
Shubashi hielt inne. "Das könnte der Schlüssel sein. Wenn
die Folge bei ungeraden n nicht 3n+1, sondern 3n+1 mod 7
die Feldphase bestimmt, dann…" Er wechselte auf ein anderes
Holo. Ringe erschienen, die sich schoben, wie Zahnräder,
die nie ganz einrasten.
"…dann gibt es Zyklusfenster", vollendete Helga. "Kurze,
stabile Phasen inmitten des Chaos. Eintritt nur, wenn die
Restklasse stimmt."
"Wir brauchen ein Lemma", sagte Tamara trocken. Es klang
nicht ironisch.
Shubashi holte tief Luft. "Lemma 1: Für jede ungerade
n existiert genau eine Restklasse r aus {1,3,5} mod 6,
die den sigma-Anstieg minimal hält. Lemma 2: Diese r
korrespondiert mit einer Resonanzklasse k aus {1,…,7},
für die die Feldenergie E(k) lokal minimal ist.
Satz: Eine Steuerung, die ungerade Schritte in die
r-Klasse lenkt, erzwingt Eintritt in ein Zyklusfenster.
Grobe Beweisidee: Subtraktionsspiel auf Restklassen –
wir ziehen dem Gegner die falschen Züge weg."
Hasso nickte bedächtig. "Das kann ich bauen."
"Bauen?", fragte McLane.
"Ein Restklassen-Deflektor. Ein Kammfilter für
Hyperfelder. Ein Defibrillator auf den natürlichen
Zahlen. Bei jedem ungeraden Schritt senke ich die
Verstärkung auf allen Klassen außer r. Der Raum
will dann r wählen."
"Der Raum will?", McLane grinste. "Das klingt nach
Philosophie - oder nach Schach im Blackmar-Diemer-
Modus."
"Nach Ingenieurwesen", erwiderte Hasso trocken.
Tamara kommunizierte mit der Basis. General van Dyke
erschien als kühles Gesicht im Holo. "Sie betreten
neues Terrain. Haben Sie Sicherheit?"
"Noch nicht", sagte Tamara. "Aber eine Strategie."
"Dann führen Sie sie diszipliniert aus", sagte die
Generalin und verschwand.
Der Deflektor stand in Minuten. (Wenn Hasso etwas ernst
nahm, tat er es mit der Beharrlichkeit tektonischer
Platten.) Helga fütterte die zweite Folge ins Gegenfeld,
de Monti synchronisierte den Takt: 7–3–1. McLane legte
den Kurs auf Sicht – Sicht im Sinne von Zahlen, die man
spürt, bevor man sie sieht.
"Anstieg bei n=13", sagte Shubashi. "sigma(13)=14.
Wir sind knapp."
"Deflektor aktiv", meldete Hasso.
Die Orion vibrierte. Und plötzlich waren sie da – nicht
an einem Ort, sondern in einer Struktur. Das Holo zeigte
eine Limit-Schleife, ein Zyklus von 27 Schritten, in
denen die Energie atmete wie ein Tier im Schlaf.
"Ein Fenster", hauchte Helga.
"Und dahinter?", fragte McLane.
"Dahinter liegt der Pfad, auf dem die Frogs uns in den
Overkill treiben wollten", sagte Tamara. "Aber wir sind
eine Stufe über ihrer Treppe."
"Wir können den Zyklus halten“, sagte de Monti.
"Solange wir den Takt bewahren."
"Und wir können ihn verschieben", fügte Shubashi hinzu,
"wie man einen Gegner in einem Spiel in die Zwangszone
manövriert."
"Ein Subtraktionsspiel", sagte Tamara, und für einen
Augenblick blitzte in ihren Augen der Spaß eines guten
Problems. "Zugmengen S = {1, 2, 3n+1 mod 7}. Wir nehmen
den Frogs die Siegeszüge weg."
McLane beugte sich vor. "Übersetzt: Wir tanzen, aber
wir führen."
"Genau", sagte de Monti, und zum ersten Mal an diesem
Tag lächelte er wirklich.
Sie betraten den Zyklus, hielten ihn, verschoben ihn.
Die Frogs antworteten – mehr Zahlen, gröberer Takt,
als würfen sie Steine in einen stillen See. Doch jeder
Stein fiel in ein Feld, das die Orion bereits gedämpft
hatte.
"sigma bleibt gebunden", murmelte Shubashi. "Kein Overkill."
"Kontakt!", rief Helga. "Ein Frog-Schiff an der Kante
des Fensters. Sie versuchen, den Zyklus zu schneiden."
"Dann machen wir ihn zur Rutschbahn", sagte Hasso.
"Wenn sie einen Schritt setzen, verliert ihr Feld Phase,
und sie gleiten tiefer in unser Fenster."
"Zugzwang", sagte Tamara.
"Ein schöner Zugzwang", spezifizierte de Monti – und
niemand widersprach.
Im Holo verlor das Frog-Schiff Halt. Nicht, weil die
Orion schoss. Weil die Zahlen es taten. Das fremde
Schiff "entschied" sich, ungerade zu sein, wenn gerade
sicherer gewesen wäre, und umgekehrt. Eine Reihe
falscher Paritäten – als hätte jemand heimlich die
Tritte auf der Treppe versetzt.
"Sie weichen", meldete Helga. "Sie sind aus dem Fenster
gefallen."
"Und wir bleiben?", fragte McLane.
"Nur einen Takt noch", sagte Tamara. "Dann steigen wir
aus, bevor die Musik uns verschlingt."
Zurück in der Unterwasserbasis wartete General van Dyke
ohne jede Geste der Überraschung. "Bericht."
Tamara fasste knapp zusammen, Shubashi setzte die Lemmas,
Hasso die Technik, Helga den Nachweis der Kommunikation,
de Monti die musikalische Intuition. McLane stand daneben,
die Hände in den Taschen, und schwieg - für seine
Verhältnisse lange.
"Das also ist Projekt Delta–Omega", schloss Tamara. "Eine
Mathematik des Überlebens."
"Und des Verständnisses", fügte Helga hinzu. "Wir
haben die Frogs nicht besiegt. Wir haben begriffen,
wie sie den Raum lesen."
Die Generalin nickte. "Sie bekommen Ressourcen.
Entwickeln Sie den Deflektor zur Serienreife. Und
halten Sie Ihre Beweise schriftlich fest. Ich mag…
saubere Argumente."
"Strenger Modus", sagte Tamara leise.
McLane räusperte sich. "Darf ich auch etwas sagen?"
Van Dyke sah ihn an. "Wenn es substanziell ist, Major."
Er grinste. "Ich habe nichts gegen Mathematik. Aber
wenn wir das nächste Mal einem Zahlenangriff
ausgesetzt sind – könnten wir das Starlight-Casino
als Übungsraum anmieten? Der Boden dort hat genau
diesen Siebener-Takt."
De Monti lachte kurz. "Er hat recht. Die Leuchtfelder
– sieben breit, drei lang, eins hoch. Ein Tanzboden
der Restklassen. Aber vielleicht sollten wir das Ganze
einfach mal im CSS-Forum diskutieren."
"Sie kriegen eine Stunde nach Dienstschluss“, sagte
die Generalin, was von ihr als großzügige Geste gelten
durfte. "Und nun an die Arbeit. Am besten bindet Ihr
auch Thorsten irgendwie ein."
Später, als die Orion wieder im Dock lag und die Stadt
über ihnen ihr Aquarium-Leuchten in die Nacht streute,
standen Tamara und McLane einen Moment allein am
Fenster der Orion.
"Du magst es, wenn die Dinge eine klare Form haben", sagte er.
"Ich mag es, wenn sie wahr sind", entgegnete sie.
"Und wenn sie tanzen?"
Sie dachte nach. "Dann ist es leichter, die Wahrheit zu sehen."
Er nickte. "Dann tanzen wir weiter. Aber mit Beweis."
"Mit Beweis", sagte Tamara – und die Tür zum Labor, das es
nicht gab, schloss sich hinter ihnen wie eine Klammer um
ein Theorem, das stimmte.
* * * * * * *
Uff, das war ein schönes Stück Arbeit.