Hallo Roland,
[quote="Roland del Rio"]
Bevor ich beginne will ich anmerken, dass mir der Begriff "Pattsieg" nicht gefällt, denn das Wort "Sieg" wird oft mit 1-0 gleichgesetzt und somit sind Falschinterpretationen Tür und Tor geöffnet.
Das Ganze bei einem Thema in dem sehr viel Überzeugungsarbeit zu leisten sein wird, bringt von vornherein mehr Ablehung auf den Plan als nötig. Gute Beispiele findet man auch hier schon im Thread.
Darüber kann man nachdenken. Andererseits ist der Begriff "Pattsieg" historisch fundiert. Um das klar zu machen, zitiere ich noch einmal Réti (bei Lasker, 1918, findet sich Ähnliches). In "Die neuen Ideen im Schachspiel" schrieb er 1922 mit Bezug auf das Schach vor der großen Spielreform im 15./16. Jahrhundert:
"...Die normale Art des Sieges war damals der Beraubungssieg. Dieser war errungen, wenn man dem Gegner alle Steine bis auf den König weggenommen hatte. Viel seltener kam der Pattsieg vor, der daher höher gewertet wurde. Er war erreicht, wenn man den Gegner pattgesetzt hatte. Der Mattsieg, das Mattsetzen des gegnerischen Königs war bei der Schwäche der damaligen Figuren nahezu unmöglich. Man mußte ein allzugroßes Übergewicht an Figuren errungen haben, um das Matt zu erreichen. Es kam fast nur in Problemen vor. Ereignete sich ein Matt einmal in einer Partie, so pflegte man den Fall zum ewigen Andenken zu notieren. (...)
Das war eine romantische Zeit für das Schach. Um auf unser Bild vom Wettlaufe zurückzukommen. Damals kam es auf diese Kleinigkeit, auf die eine Sekunde nicht an. Heute, wo die Schachtechnik sich so verfeinert hat, heute kommt es auf diese Sekunde an. Was ist da natürlicher, als daß man wieder zu den ursprünglichen Regeln zurückkehrt. Lasker hat diesen Vorschlag gemacht, dem wir uns mit ganzer Überzeugung anschließen. Um den Remistod des Schachspiels zu verhindern, müssen feinere Nuancen des Unterschiedes der Spielführung sich im Resultate zeigen, muß man den Beraubungssieg und Pattsieg wiedereinführen, natürlich in der Punktebewertung für Turnierzwecke diese Siege geringer bewerten als den Mattsieg."
Letztlich entscheidet die Praxis darüber, ob die Idee des Pattsieges Anhänger gewinnt oder nicht. Ich mache mir keine Illusionen darüber, dass die Anhängerschaft jetzt, am Anfang einer neuen Kampagne, erstmal deutlich unter 5% liegen würde, falls darüber abzustimmen wäre. Das ist aber mit fast allen neuen (bzw. neuentdeckten) Ideen so.
Zitat:
(...) m.E. rechtfertigt sich eine Regeländerung diesen Ausmaßes nur dann, wenn absoluter Handlungsbedarf besteht. Vorneweg will ich schonmal sagen: Falls dieser Handlungsbedarf zum heutigen Zeitpunkt überhaupt schon existiert, sehe ich ihn einzig in Fernschachturnieren auf höchstem Niveau. Sollten "Nah"-Schach-SuperGMs ebenfalls einen solchen Handlungs[bedarf - sic!] für sich sehen, sollten sie sich eigens ihres Themas annehmen. Dort liegen die Dinge sicherlich ein wenig anders.
Ob "Handlungsbedarf" besteht, ist nicht objektiv messbar, sondern eine Frage der subjektiven Auffassung und der Motivation, in gewisser Weise auch des Zeitgeistes. Im Unterschied zu früheren Jahrhunderten haben wir heute sehr festgefügte institutionelle Strukturen und kommerzielle Interessen im Schach. Provokant formuliert, wird ein "Handlungsbedarf" erst heute als ein solcher von Institutionen und Unternehmen entdeckt, wenn sich damit Geld machen lässt und der eigene Einfluss nicht gefährdet, sondern eher erweitert wird; der Meinungsstreit ist nur Begleitmusik. Instituitionen halten erstmal grundsätzlich am scheinbar Bewährten fest und wehren sich gegen grundlegende Veränderungen (wobei sich letztere dann doch unbemerkt peu à peu hinter ihrem Rücken durchsetzen können, wie die moderne Schach-Sport-Elo-Kultur(losigkeit) zeigt, die so nicht geplant, sondern einfach nur "gemacht" wurde). -
Einen geistigen Meinungsstreit auf intellektuellem Niveau wie in den 1920er Jahren hat es wohl seitdem nicht mehr gegeben; bedauerlich, aber nicht zu ändern. Damals spielte Bildung eine viel größere Rolle und man konnte noch die Illusion haben, durch Überzeugungsarbeit irgendetwas bewirken zu können.
Zitat:
Eine grundsätzlich[e] Regeländerung für Partieschach im Allgemeinen halte ich für nicht notwendig, hier ist die Remisquote völlig ok (...)
Man kann die Schachregeln schlecht nach Klassen von Spielern teilen, wie unter anderem das simple Beispiel von Open-Turnieren zeigen würde.
Wenn wir mal spekulieren, dann laufen Prozesse so ab, dass jemand etwas Neues ausprobiert neben dem Herkömmlichen, und dann zeigt sich, wie sehr die Idee ankommt, welche praktischen Erfahrungen vorliegen usw. Man kann das im Positiven wie im Negativen sehr gut am Beispiel Chess960 studieren, das eine beachtliche Nischenexistenz pflegt, aber es schwer hat, breitere Kreise zu begeistern, weil es aus ästhetischen Gründen und wegen der verwirrenden Vielfalt möglicher Ausgangsstellungen gegenwärtig noch auf starke Widerstände stößt, nicht zuletzt bei der Masse der Großmeister, die letztlich den Trend bestimmen. Die anderen folgen nur nach.
Zitat:
Folge wäre ein erheblicher Komplexitätszuwachs der Endspieltheorie. Nicht, dass das ein grundsätzliches Problem darstellt, aber hier entsteht eben ein Gernerationenproblem derart, dass die jetzige Generation in großen Teilen wohl kaum dazu bereit wäre ihre erworbenen Kenntnisse zwar nicht komplett über den Haufen zu werfen, sich aber der Herausforderung stellen müsste, diese unter erheblichem Zeit und Kraftaufwand auf den neuen Stand zu bringen.
Ich glaube nicht, dass der Generationenaspekt so entscheidend ist. Es ist wohl eher typ-(und zeitgeist-)bedingt, ob sich jemand auf Neues einlässt oder nicht. Wer natürlich die Schachregeln von vornherein anders lernt, der braucht sich nicht umzustellen, das ist auch klar. - Stell Dir erstmal vor, auf welche Widerstände gegen Ende des 15. Jahrhunderts die neuen Ideen zur Änderung der Gangarten von Dame und Läufer stießen und dann die zuerst in Italien eingeführt Rochade... Diese Ideen haben sich auch nicht im Handumdrehen durchgesetzt, sondern brauchten ihre Zeit. Hinsichtlich des Patts galt zwischen 1600 und 1800 in England die Regel, dass ein Spieler, der den anderen patt setzt, die Partie verliert (!). Gerade die Pattregel war regional so ziemlich das Uneinheitlichste, was man sich vorstellen kann; es gab viele willkürliche Festlegungen, vom Verbot des Pattzuges bis hin zum Gewinn für Weiß oder Schwarz, egal, wer das Patt herbeiführt. Nun wusste man damals aber auch noch nichts von Schachtheorie im umfassenderen Sinne und hatte - vor Steinitz - noch keinen Begriff davon, dass Schach ein Gleichgewichtsspiel ist.
Zitat:
Ich für meinen Teil denke, dass es sehr wohl in Naher Zukunft so weit kommen könnte. Es gab, gibt und wird immer mehr Fernschachspieler geben, denen das Spiel in seiner jetzigen Form keinen Spaß mehr macht und die die Fernschachgemeinde verliert.
Zentrale Frage: Würde man mit der neuen Regel daran etwas Ändern? Hieße niedrigere Remisquote wieder mehr Spaß? Oder ist es die grundsätzliche Art in der sich Fernschach im 21.Jahrhundert darstellt das Problem? Oder ist es Beides?
Beim Fernschach spielt, wie Du auch weiter unten sagst, der Einfluss der Computer eine große Rolle. Und auch hier reagieren die Spieler (gottseidank!) unterschiedlich. Nach meinem Dafürhalten würde der menschliche Spielraum durch die Regeländerung patt=remis wieder etwas größer, zumindest für eine längere Übergangsphase, da langfristige strategische Überlegungen wieder eine größere Rolle spielen, die mit den herkömmlichen Programmiermethoden nicht so leicht simuliert werden können, abgesehen von den neuen weißen Flecken in der Endspieltheorie. Ich meine speziell das Offenhalten von Optionen, inwieweit ich nämlich sowohl drohe, ein entscheidendes Übergewicht im Mattsinne als auch - als Minimalziel - ein entscheidendes Übergewicht im Sinne des Pattsieges - zu erzielen. Das Spiel würde in dieser Hinsicht etwas komplexer werden, was ja eigentlich der Grundidee des Schachs - Vielfalt und Tiefe - durchaus entspricht.
Besten Dank für Deinen ausführlichen Beitrag!
Arno