Hallo Ludwig!
Das ist natürlich nach dem weiteren Verlauf sehr stark zu vermuten, dass sich die schwarze Dame da schon nicht mehr so exponieren hätte sollen, auf der anderen Seite, wenn man nur mit positionellen Begriffen arbeitet, könnte man das auch als Aufreißen der weißen Rochadestellung sehen.
Du hast natürlich recht, dass du meinst, der schwarze Gegenangriff läuft dem Weißen schon ins offene Messer, dann müsste aber am "Plan" (ich weiß schon, dass es eine Computerpartie ist) des Schwarzen auch schon vorher was nicht gestimmt haben.
Und dann, wenn erst hier der schwarze Fehler passiert ist, was hat dann Schwarz hier noch für wesentlich bessere Alternativen, beim 11. Zug?
Den a-Bauern statt des c-Bauern nehmen?
Mit h5 oder f6 versuchen, etwas gegen den weißen Königsangriff zu tun?
Mit z.B. Se7 die rückständige Entwicklung aufzuholen versuchen?
Mit Da3+ ein Zwischenschach geben oder mit Dc5 die Dame wieder mehr zur Mitte holen?
Meinst du nicht auch, an dieser Stelle fehlen Schwarz schon irgendwie die guten Alternativen?
Ich lehne mich mal zurück und schau nur auf die Evals von Houdini im backward solving.
Nach 9...Da5 hat er 0.62 bei mir, davor 0.23, das ist immerhin fast eine
Verdreifachung, der Vorschlag statt dessen: 9...Le7, ausgespielt: 0.29, natürlich ändern sich diese Zahlenwerte noch etwas, wenn man länger rechnen lässt, aber die Größenordnungen bleiben schon so.
Hingegen ist nach 11...Dc3+, das auch für mich ein Fragezeichen verdient, 1.01 von H4 "nur" noch eine annähernde
Verdopplung zu der Stellung vor dem 9. Schwarzzug, und für mich der Clou an den folgenden allgemeinen theoretischen Überlegungen zum Thema Evals der engines:
zwischen diesen beiden Evals vom 9. Weiß- zum 11. Schwarzzug liegen
vier Halbzüge, bei den anderen beiden zwischen dem 9. Zug von Weiß und dem von Schwarz
nur einer.
Wenn du hingegen nach dem vielleicht am besten nachweisbaren taktischen Fehler suchst, nach dem für mich "schönsten" Zug 15.a3! bleiben die Evals im backward solving über +2 bis nach dem 13. Schwarzzug Se7, unmittelbar fallen sie wieder auf die ca. +1.
So gesehen, wenn man jetzt Evals von engines überbewertet (und das kann man dann natürlich auch mit dem Verlauf ihrer Evals machen
), dann könnte man auch hier vom letzten und entscheidenden Fehler reden, mit z.B. 13...Sa5 an dieser Stelle (auch ausgespielt immer noch nur so +1), um das nicht zu tun, sie nicht überzubewerten, kommt es auf etwas an, worauf ich erst zum Schluss komme.
Nun müsste man sich von da aus natürlich weiter anschauen, was gibt's von welchem Knoten aus für Alternativvarianten, logisch scheint dieser Evalsprung bei 9...Da5 im Rückblick aber schon, warum mit der Dame überhaupt nach a5?
Wenn dein natürlich richtiger Einwand gegen das Einkassieren von Material am Damenflügel stimmt, ist rein positionell betrachtet schon der Weg dorthin fraglich, oder?
Nun bleibt die Eval nach dem 9...Da5 ja auch ziemlich gleich hoch nach der weißen 0-0-0 und was hätte Schwarz dann auch an dieser Stelle noch wirklich anderes tun sollen, als 10...Lxc3, auch wenn's immer noch dem "falschen Plan" dient, einfach gleich zurückrudern?
Wir stehen schon vor derselben Entscheidung wie an der Stelle, die du markiert hast.
Worauf ich hinaus will, wir können hier auch mit Worten trefflich streiten, und uns so auf Alternativvarianten einigen, wenn wir nur unsere "menschlichen" positionellen Beurteilungskriterien anlegen, oder wir können auch dazu schon rein verbal nach einem objektivierbaren Maß suchen.
Das einzig zählende ist natürlich die jeweils beste Alternativvariante, an der aber wieder auch unbedingt das: wieviele ungefähr gleichwertige Alternativen muss ich bis zu welcher Halbzugtiefe exakt durchrechnen, um die jeweiligen Anfangs- und die Endstellungen als relevanteste Vergleichsmaßstäbe nehmen zu können.
Ganz ohne Zahlenwerte komme ich also im Schach auch ohne Computer sowieso nicht aus: Zugtiefen von Varianten mal ihre Anzahl in die Breite, Zugsortierung auf bestimmte Plätze in der Reihung sind die wichtigsten Kriterien, die in Zahlen zählen.
Tut mir leid, wenn ich die schöne Partie von Clemens zu Theoretisiererei missbrauche, sie ist aber ein gutes Beispiel, finde ich.
So lange wir nur die taktisch überprüfbaren einzelnen Züge anschauen, brauchen wir kaum solche Mathematik, es ist reines Stellungssuchen, eine Reihung der Kandidatenzüge braucht's aber auch schon.
Wenn wir aber den Verdacht haben (und wo haben wir den nicht, gerade hier würde ich unbedingt bis zur frühen Eröffnung zurück gehen, um herauszufinden, wo hat Schwarz begonnen, suboptimal zu spielen), das hat sich über mehrere Züge entwickelt, dann sollte man im Computerschach meiner Meinung nach schon ruhig genauer auf den Verlauf der Evals über die Halbzüge der fraglichen Varianten schauen.
Die Absolutwerte der verschiedenen engines, was ihre Evals angeht, sind nicht vergleichbar, das wissen wir alle, die Relationen einer Eval vor und der nach einem Zug oder einer Variante einer bestimmten Länge sollten nicht nur vergleichbar sein, sie sollten in einer gewissen Bandbreite einfach passen, findest du nicht auch?
Zurück zur Partie, bevor ich wieder das praktische Beispiel zerrede: kannst du mit engines deiner Wahl an der sicher kritischen Stelle den Evalverlauf im backward solving nachvollziehen, dass es schon vor dem 11. Zug kriselt?
Dann wäre jetzt die Frage, die ich ja aber vorher noch nicht gestellt hatte, wenn sie wirklich erst beim 9., 10., 11. Zug gekippt ist, wo ist in der Partie der weiße Anzugsvorteil so wesentlich vergrößert worden, dass er zu einem gefährlichen Angriff wurde?
Das ist schon eine andere Frage als die nach dem Kippen, so wie wir es im allgemeinen schachlichen Sprachgebrauch verstehen, weil da muss es eben meiner Meinung nach gar kein einzelner Zug gewesen sein, es kann ein Abschnitt der Partie sein, eine Variante von ein paar Zügen Länge, auch wenn innerhalb von der theoretisch wieder einer der am ehesten allerfalscheste einzelne Zug gewesen sein muss.
Jedenfalls wäre aber diese Variante, über die sich die Evals deutlich zu verschlechtern
begonnen haben, das was man als positionell falsches Spiel bezeichnen könnte.
Ich finde ja, dass die engines bei ihrem Evalwort zu nehmen, gerade hier interessant wäre, weil die taktischen Schnitzer, wenn sie überhaupt noch welche machen, oder die positionellen eindeutig falschen einzelnen Züge kann ich auch ohne Evalverlauf herausfinden, tatsächlich gehe ich aber natürlich gerade bei denen auch so vor, dass ich Alternativen ausprobiere und schaue, wo steigen und wo fallen sie.
Der Witz auf den ich immer wieder hinaus will, ist der:
Die Relationen der Evals vor und nach einer Variante oder einem einzelnen Zug ändern sich als Quotient aus End- und Ausgangseval nicht dort am stärksten, wo's von schon hoher Ausgangs- zu noch höherer Endeval springt, das sind meistens einfach einzelne best moves, am meisten ändert sich dieser Quotient dort, wo's von (fast) 0.00 zu +- 0.30 wird, da muss ich je nach Vorzeichen der Endeval das 0.00 der Ausgangseval, wenn's tatsächlich numerisch genau vorkommt, zu + oder - 0.01 korrigieren, um überhaupt damit als Nenner dividieren zu können, das ist das eigentliche "Kippen", wenn man diese Relation quantitativ betrachtet, hier verdreißigfacht sich die Eval im Beispiel, auch wenn es nur 30 cp sind, die die Eval steigt oder fällt.
Das sind tatsächlich auch die interessantesten Stellen an einer Partie, wo die ausgeglichene zur unausgeglichen Stellung wird, finde ich.
Nächste Frage also: wo ist das in dieser Partie der Fall, und lässt sich das auch am Evalverlauf von engines festmachen?