By Chrischan
Date 2012-09-15 00:17
Das 21. Jahrhundert scheint der Beginn einer neuen Zeit - ja einer neuen Epoche zu sein. Wenn wir uns nur umschauen sehen wir die großen Veränderungen, die unser Leben von nun an prägen. Ein mobiles Telephon wirkt da schon antiqiert. Wie sagte mein Neffe zu mir: "Früher hat man das Handy eingeschaltet, heute fahren wir es hoch." Oh holde Technik du begeisterst mich doch immer wieder. Aber....egal ob mein neustes Navi die Elbfähre nun eingearbeitet hat oder nicht, manchmal bekommt man auch im 21. Jahrhundert nasse Füsse.
Und das hat nichts mit Urlaub in Palermo zu tun.
Schweissgebadet, am ganzen Körper zitternd schaute ich gestern noch aus dem Fenster. Wenn ich den monoton klingenden Landregen überhaupt wahrnahm, so doch nur als Metapher für mein momentanes Seelenleben.
Ich bin Schachspieler, müssen sie wissen. Schach, das bedeutete, als mein Vater es mir beigebracht hatte, immerhin noch der Streit ob es Spiel, Kunst oder Wissenschaft sei. Heute nennt man es bestenfalls Spiel der Verrückten, Spiel der Computernerds, Spiel der ewig Gestrigen. Oder ganz besonders schlaue Zeitgenossen nennen es schlicht und ergreifend "Nullsummenspiel" welches eigentlich keinerlei Aufmerksamkeit mehr bedarf.
Wir haben Houdini! Pffh, Houdini, zaubern wie sein Urahn kann der auch nicht wirklich.
Ich habe mich zu einem Schachzweikampf angemeldet. Das ist heute im Zeitalter des Onlineschachs per e-Mail oder Schachserver überhaupt keine große Herausforderung. Man spielt gegen Gleichgesinnte aus aller ( Damen und ) Herren Länder.
Die meisten Schachspieler bezweifeln einen Sinn in diesem Wettstreit. Sie gehen davon aus, das nicht der Deutsche gegen den Palauer spielt, sondern ein Notebook aus Brandenburg gegen ein i-phone auf der südlichen Seite jener Südseeinsel.
Ich bin ein alter Mann, vielleicht passe ich nicht in diese moderne Welt, wo man schon als Auszubildender am ersten Tag dem Gesellen seine fachlichen Grenzen aufzeigen muß. Selbstverständlich sehr zur Freude des Meisters. Dieses Streben nach dem Schönsten und den Besten ist ein Zeitgeist, der auch spaltet.
Für mich ist Schach eben auch Spass und Erkenntnis. Ist denn endlich das Rice-Gambit widerlegt? Gibt es Hoffnung für eine Renaissance der romantischen Epoche?
Manchmal bin ich tatsächlich ver-rückt, ich rücke nach rechts oder links und vergesse das reale Leben. Aber im Internet gibt es soviel zu entdecken! Und so fand ich eines Tages in meinem Spam-Ordner eine Einladung zu einem besonderen Wettkampf.
"Sehr geehrter Schachfreund,
ihre Onlineaktivitäten sind keine Geheimnisse. Wir beobachten Sie schon lange, besonders Ihr großes Interesse an dem künstlerischen und kreativen Schach. Wir schlagen ihnen einen Minizweikampf auf ihrem ureigensten Gebiet, dem Schachspiel vor. Zwei Partien mit wechselndem Anzug. Sollten sie gewinnen, dann überweisen wir Ihnen einen angemessenen Betrag, bei Verlust...."
Was soll das? Wer sind"wir"? Ich hörte zwar davon, das der amerikanische Geheimdienst alles mitlesen kann, aber seit wann interessiert der sich für mich? Nein, das muß ein Irrtum sein und es ist korrekt das diese Mail im Spamordner abgelegt wurde.
Der E-Mail Terror begann. Schließlich bekam ich sogar direkt ins Haus einen Brief mit der Einladung zu zwei Online-Partien. Und als ich meinen Anwalt einschalten mußte, meldete der nach zwei Wochen ich solle das Angebot annehmen. Er habe gründlich recherchiert und ich habe doch nichts zu verlieren.
Advocatus diaboli nennt man so etwas. Im Zeitalter der längsten Friedensperiode in der westlichen Kultur untereinander sind natürlich Verschwörungen eine beliebte Ablenkung. Aber, ich willigte ein. Warum auch nicht, es geht ja nur um Schach.
Erst viel später bemerkte ich, daß dieser Wettkampf mehr als zwei Partien "just for fun" waren, es ging um mein Leben. Ich veränderte mich. Allerdings langsam.... Schritt für Schritt.
Es regnet noch immer in dem kleinem Dorf und ich stehe noch immer am Fenster und beobachte die tanzenden Wassertropfen auf dem Sims.
Hätte ich doch nie dieses Spiel begonnen.... schoß es mir durch den Kopf. Mit einem Stoßseufzer ging ich zu meinem Notebook. Zum wiederholtem Mal in den vergangenen Tagen und Wochen gab ich mich der aussichtslosen Stellung hin.
Ich muß gewinnen! Ich muß gewinnen!!
Draußen quietschen Autobremsen, ängstlich schaute ich zum Fenster, doch es ist kein Auto zu sehen. Das beruhigte mich aber kaum, denn ein seltsames schwarzes Auto mit ausländischem Nummernschild fuhr schon monatelang immer wieder zu wechselnden Zeiten an unserer Wohnung vorbei. Keiner kannte die Insassen.
Da nützt dir auch nicht diese "Lets Check" App - eine verlorene Stellung ist und bleibt eine verlorene Stellung. Keiner, dem ich die Position zeigte, konnte mir bisher helfen. Mehr aus purer Verzweifelung schrieb ich den ein oder anderen Großmeister an und versprach ihm eine fürstliche Belohnung. Aber entweder es kam keine Antwort, oder sie standen auf der anderen Seite. Warum erinnerte mich das gerade an meinen Anwalt?
Ernüchtert legte ich mich gestern schlafen. Morgen wollte ich mich in das Unvermeidliche fügen und die Partie aufgeben. Mit vollem Bewußtsein, daß ich morgen den Kampf gegen den Tod verlieren werde, schlief ich ein.
Und dann träumte ich von Wilhelm Steinitz. Ich beschäftige mich mehr mit Schachgeschichte als mit Schachtaktik. Ein Grund vielleicht mehr für mein derzeitiges Desaster. Na jedenfalls lächelte er milde und sagte mit piepsiger Stimme: Ich habe inzwischen gegen Gott Schach gespielt und ich habe ihm einen Bauern und einen Zug vorgegeben. Das Ergebnis unserer Partie..." "Schweig!" dröhnte von hinten laut eine Stimme. Steinitz nahm seinen Spazierstock und richtete das Ende auf mich und meinte abschließend: "Wenn ich gegen Gott spielen kann, dann kannst du allemal gegen den Tod gewinnen.Und nun lauf, lauf..."
Dann stand ich auf einmal an einem Schachbrett als Zuschauer. Die Szenerie passte ebenfalls nicht und trotzdem kam sie mir genau so vertraut vor, wie das bizarre Gespräch mit Wilhelm Steinitz. Allerdings wurde es noch grotesker. Eine wunderschöne Frau spielte gegen einen Mann. Als ich mir den Hintergrund genauer zu Gemüte zog, bemerkte ich eine eher noch frühere Epoche der Menschheit. Und dann fiel es mir ein: Natürlich dort spielt Paolo Boi. Und die Frau auf der anderen Seite des Brettes ist der Teufel, der gleich besiegt wird. Tatsächlich setzte Boi die Frau matt. Sie verwandelte sich augenblicklich in den Dreigehörnten und verschwand wie im Märchen in dem sich öffnenden Erdloch.
Boi drehte sich langsam zu mir herum und zwinkerte mir zu. Dann sprach er auf italienisch, aber ich verstand augenblicklich was er meinte: "Ich habe den Teufel mit den Mitteln des 16. Jahrhunderts besiegt, jetzt bist du dran den Tod mit dem Wissen des 3. Jahrtausend zu besiegen, renne, renne, ...schau dir den Sensenmann genau an."
Leider konnte ich mit dem Inhalt - mit dem was er ausdrücken wollte - überhaupt nichts anfangen. Verstohlen blickte ich dem davonreitenden italienischen Meister hinterher.
Mein fragender Blick voller Unverständnis blieb erneut unbeantwortet.
Doch ich sollte noch eine dritte Traumszene erleben. Diese hatte aber keinen Bezug zum Schach, oder doch?
Jedenfalls muß ich dem geneigtem Leser noch mitteilen, daß - neben dem Schach - ich genauso leidenschaftlich, wie oberflächlich der Geschichte meine freie Zeit opfere. Und dieses Hobby hat nun wohl die Rolle im dritten Akt übernommen. Denn ich sah nun einen Mann in einer Burg mit einer herrschaftlichen Kopfbedeckung und ich sah einem ihm gleichberechtigten Mann. Allerdings lief dieser voller Hohn und Spott Spießruten um am Ziel vor der Burg Abbitte zu bekommen. Die schwarzen Gestalten auf seinem Weg lachten gar hämisch, ja dämonenhaft.
Diese völlig überraschende Wende im Traum ließ mich erschaudern und ich erwachte. Leider blieb mir nur die letzte, für mich völlig sinnlose Szene in Erinnerung. Das, was mir vielleicht hätte helfen können, der Bezug zum Schach, war vergessen.
So lebte ich heute, als wäre es mein letzter Tag auf Erden.
Am Abend wollte ich die Mail abschicken und mich meinem Schicksal endgültig ergeben. Am Nachmittag brachte mir meine Frau ein letztes Geschenk nach Hause. Ein Buch über den deutschen König Heinrich IV und seiner Fehde mit dem Papst.
Auf einmal war sie wieder da, diese Traumsequenz. Mit all ihren schwer zu beschreibenden Facetten. Und dann schreite ich laut auf. Ja natürlich, das war es!! Der Gang nach Canossa!! Das ist die Lösung!
Eifrig schrieb ich eine neue Mail mit der gefundenen Variante die am Ende die Partie gewinnen sollte. Jetzt muß ich nur noch in der zweiten Partie nicht verlieren, dann habe ich den Wettkampf gewonnen. Aber, wer hätte gedacht, daß meine schachunkundige Frau mir die Lösung verriet, eine Lösung, auf die nicht mal Houdini, Stockfish, Critter und die anderen gekommen sind. Oder gibt es eine Engine, die die richtige Bewertung ausspuckt?
Weiß zieht und gewinnt!!!
[Studie von Bernhard Horwitz Dezember 1871 Neue Berliner Schachzeitung ]
P.S. Ich bin überzeugt, die Studie entschädigt euch für meine übel konstruierte Vorgeschichte - nennen wir sie am Ende eures Leseleidensweg "Gang nach Canossa!"
P.P.S. Trotzdem, es sind im Text einige Hilfen versteckt. Ein weiterer Hinweis lautet: Wer oder was war Bobby Fischer beim Schach. Und bei aller Bescheidenheit, das bin ich auch!