Liebe Schachfreunde
Wie konnte es kommen, dass ein Neuling in der damaligen Schachszene,
nämlich José Raoul Capablanca, den stärksten und turniererfahrenen
Spieler der USA, Frank Marshall in einem Match des Jahres 1909 nicht
nur besiegen, sondern gar zerschmettern konnte. Die Beantwortung
dieser Frage hat mich schon lange gereizt. Deshalb habe ich alle
Partien genauer unter die Lupe genommen und auch kommentiert. Diese
kommentierten Partien werde ich sporadisch hier ins Forum stellen.
Wie immer wäre ich für Anregungen und Verbesserungsvorschläge
aus der Community dankbar.
Bisher publizierte Partien01)
http://forum.computerschach.de/cgi-bin/mwf/topic_show.pl?pid=48825#pid4882502)
http://forum.computerschach.de/cgi-bin/mwf/topic_show.pl?pid=48905#pid4890503)
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http://forum.computerschach.de/cgi-bin/mwf/topic_show.pl?tid=4656Freundliche Grüsse
Kurt
Stellung nach 12...0-0, Schwarz hat Ausgleich erzielt
Stellung bevor 18...Lc6, Capablanca spielt auf Verwicklungen
Stellung bevor dem komplizierten 20...Lxa4 statt dem einfachen 20...Lxd5
Stellung bevor 29.h4? statt des starken, unklaren 29.Ld7!
Schluss-Stellung
11. Partie unkommentiert, nachspielbar
Event:
Ort:
Datum:
Weiss:
Schwarz:
Ergebnis
Board
11. Partie kommentiert[Event "m"]
[Site "New York"]
[Date "1909.05.11"]
[Round "11"]
[White "Marshall, Frank"]
[Black "Capablanca, Jose"]
[Result "0-1"]
[ECO "D53"]
[EventDate "1909.05.11"]
[PlyCount "86"]
[Annotator "Utzinger,K"]
[Spielstand "3,5-7,5"]
1. d4 d5 2. c4 e6 3. Nc3 Nf6 4. Bg5 Be7 5. e3 Ne4
{Erneut greift Capablanca zu diesem Entlastungsmanoever. }
6. Bxe7 Qxe7 7. Bd3
{Mit dieser Fortsetzung hat Marshall die 5. Partie verloren, die 7.
Partie aber gewonnen, weshalb seine Wahl verstaendlich ist. Als beste
Variante gilt heute 7.cxd5 Sxc3, 8.bxc3 exd5, 9.Db3 c6, 10.Ld3 0-0,
11.Se2 usw. Mit Einschaltung von 5...h6, 6.Lh4 Se4 gibt Theoretiker
Max Euwe folgende Kommentare zu den moeglichen Zuegen: a) cxd5 Ein
guter Zug, aber keine "Widerlegung" der Verteidigung, wie man frueher
dachte. b) Ld3 Ein alter und harmloser Zug, der keine Chancen auf
Vorteil bietet. c) Sxe4 Auch dieser Zug sichert keinen Vorteil d)
Dc2 Wird heutzutage als der beste Zug betrachtet, obwohl die
Initiative von Weiss nicht gross ist. e) Tac1 Diese Fortsetzung ist
hauptsaechlich in den letzten Jahren beliebt geworden. Ebenso wie Dc2,
bietet sie fuer Weiss kleine Chancen auf Initiative. }
7. ... Nxc3 8. bxc3 dxc4
{Nun ist es Capablanca, der nach zwei Versuchen mit ...Sd7 abweicht. }
9. Bxc4 b6 10. Qf3 c6 11. Ne2 Bb7 12. O-O O-O
{Schwarz hat bereits mehr oder weniger Ausgleich erreicht. Einmal mehr
ist es Weiss nicht gelungen, gegen die Lasker-Methode im Damengambit
einen Vorteil in der Eroeffnung zu erringen. }
13. a4
{Ob dies eine unnoetige Schwaechung der weissen Bauernstruktur
darstellt oder wegen der Moeglichkeit a4-a5 ein erstrebenswertes
Manoever ist, vermag wohl nur ein Grossmeister zu beurteilen. }
13. ... c5 14. Qg3
{Gut spielbatr war 14.d5 exd5, 15.Lxd5 Lxd5, 16.Dxd5 aber Marshall hat
fuer solche Aufloesungstendenzen kein Musikgehoer. }
14. ... Nc6 15. Nf4 Rac8
{Entwicklung mit der Drohung ...cxd4, cxd4 Sxd4, exd4 Txc4 und
Bauerngewinn. }
16. Ba2 Rfd8 17. Rfe1
{Was Weiss mit diesem mysterioesen Turmzug im Sinn hat, vermag ich
nicht zu ergruenden. Eher haette man an 17.Tad1 bzw. 17.Tfd1 oder auch
17.d5 gedacht. }
17. ... Na5 18. Rad1 Bc6
{Eine gute und vielleicht sogar bessere Alternative war 18...Le4. Doch
geht Capablanca moeglichen komplizierten Abspielen gegen Marshall
nicht aus dem Weg. }
19. Qg4
{Stellt die boese Falle 19...Lxa4?, 20.Sxe6 +-}
( 19. d5 Bxa4 20. Nh5 g6 21. d6 Qf8 22. Rd2 c4 {unklar } ) 19. ... c4 20.
d5 Bxa4
{Capablanca spielt auf Verwicklungen, denn bestimmt hat er die
einfachere Variante 20...Lxd5, 21.Sxd5 exd5, 22.Txd5 Txd5, 23.Dxc8
Dd8, 24.Dg4 Dd7 mit leichtem Plus fuer Schwarz auch berechnet. }
21. Rd2
{Eine komplexe Position, in der Schwarz eine schwere Wahl zu treffen
hat zwischen ...exd5 oder ...Tc5 bzw. dem Capablanca-Zug ...e5 }
21. ... e5
{Schwarz scheint gute Nerven und einen Verteidigungsplan zu haben,
dass er sich fuer diese etwas zweischneidige Fortsetzung entscheidet.
}
22. Nh5
{Mit Mattdrohung Dxg7}
22. ... g6 23. d6
{Sieht denn dieser Vorstoss nicht recht gefaehrlich aus fuer Schwarz?
}
23. ... Qe6
{Eine starke und nicht offensichtliche Verteidigung, die nach
Damentausch zu einem fuer Schwarz haesslichen Doppelbauern fuehrt,
doch hat Capablanca anscheinend weit und gut berechnet, dass er dann
gewinnbringenden Vorteil bekaeme. }
24. Qg5
{Leider muss Marshall den Damentausch ausweichen, weil er sich nach
24.Dxe6 fxe6, 25.Sf6 Kg7, 26.Se4 Lc6, 27.Sg5 Td7!, 28.Sxe6 Kf6, 29.Sc7
Tcd8, 30.Tad1 La4, 31.Ta1 Txd6, 32.Txd6 Txd6 auf der Verliererstrasse
finden wuerde. Andererseits bekommt Weiss nach dem Textzug
gefaehrliches Gegenspiel, was nicht weiter verwunderlich ist, wenn man
sich die verzettelten Figuren des Nachziehenden am Damenfluegel
betrachtet. }
24. ... Kh8 25. Nf6 Rxd6
{Wohl bedingt durch den bisherigen Matchverlauf, wird Capablanca fast
uebermuetig. Objektiv scheint 25...Df5, 26.Dh4 Kg7 die bessere Wahl. }
26. Rxd6 Qxd6
{Schwarz besitzt nun bereits zwei Mehrbauern, muss aber genau agieren,
um das gegnerische Angriffspotential zu entschaerfen.}
27. Bb1
{Ein guter Zug, aber 27.Tf1 ist noch staerker mit der Idee, f2-f4
folgen zu lassen. Schwarz haette es dann echt schwierig gehabt. }
27. ... Nc6
{Ebenfalls in Frage kam 27...Sb3, womit das Feld d7 ueberdeckt
geblieben waere. }
28. Bf5 Rd8
{Und nicht 28...gxf5??, 29.Dh6 und Weiss gewinnt. }
29. h4
{?! Schade, denn mit 29.Ld7! und der Drohung Se8 haette Weiss die
gegnerische Verteidigung auf eine harte Probe stellen koennen. Aber
selbst nach dem Textzug sieht es fuer Schwarz nicht einfach aus. Es
ist bewundernswert, wie praezis Capablanca die Verteidigung in dieser
schwierigen Stellung behandelt. }
29. ... Ne7
{Ueberdeckt das Feld g6 und greift den gegnerischen Lf5 an. }
30. Ne4
{Komplizierter als 30.Le4 Sg8, wonach der weisse Angriff vorueber
waere und die beiden Mehrbauern von Capablanca den Ausschlag gegeben
haetten. }
30. ... Qc7
{Der schwarze Se7 bedarf des Schutzes. }
31. Qf6+ Kg8 32. Be6
{Die einzige Moeglichkeit, weiterhin im Trueben zu fischen. Auf andere
Zuege kann Schwarz je nach den Umstaenden mit ...Lc2 oder ...Sd5
antworten und haette hernach keine Probleme mehr. }
32. ... fxe6 33. Qxe6+ Kf8 34. Ng5
{Etwas staerker, aber schliesslich auch ungenuegend ist 34.Df6 Ke8,
35.Sg5 Dd6 usw., denn Weiss hat einfach zu wenig Holz auf dem Brett
und kann den materiellen Nachteil nicht mehr wettmachen. }
34. ... Ng8
{! Hat Marshall in der Hitze des Gefechts diese gute Verteidigung
nicht beruecksichtigt? }
35. f4
{Ein letzter Versuch, Weiss will die f-Linie oeffnen. }
35. ... Re8
{?! Einfacher war 35...exf4, weil 36.Tf1 mit 36...Td1 und Turmtausch
beantwortet werden kann. }
36. fxe5 Re7 37. Rf1+ Kg7
{Die schwarze Verteidigung haelt jedem Ansturm stand. }
38. h5 Be8 39. h6+ Kh8
{Faellt auch auf die letzte Falle seines Gegners nicht herein, denn
das Schlagen des h-Bauern mit dem Springer haette Matt zur Folge, also
39...Sxh6??, 40.Df6 Kg8, 41.Df8 Matt. Hingegen war das Schlagen
39...Kxh6 ohne grosse Gefahren moeglich. Der von Capablanca gespielte
Textzug ist aber einfacher und raeumt dem Gegner nicht die geringste
Chance ein. }
40. Qd6 Qc5
{Gewinnt weiteres Material. Dass Marshall nicht aufgibt, muss
psychologisch begruendet sein. }
41. Qd4 Rxe5 42. Qd7
{Droht Matt mit Dxh7, aber das ist leicht abzuwehren. }
42. ... Re7 43. Rf7
{Noch ein letzter Bluff bevor der Partieaufgabe. }
43. ... Bxf7 0-1