Hallo Peter und die anderen Leser,
die an diesem Thema interessiert sind.
Ohne Frage hat das Computerschach besonders im letzten
Jahrzehnt bis heute einen zunehmenden Einfluss sowohl auf
das Fernschach als auch das normale Partieschach gewonnen.
Die laufende Schachweltmeisterschaft, in der schon
mittlerweile 5 kurze Remispartien gespielt wurden, mag nur
den Eindruck bestätigen, dass ja sowieso alles schon am
heimischen Herd per Computer ausgebrütet wurde und wir in
Zukunft hilflose Zuschauer der Schachprogramme sein müssen,
weil ja kein Mensch mehr versteht, was da auf dem Brett vor
sich geht. Auch eine Bemerkung Jan Timmans während einer
Live-Übertragung einer WM-Partie, die besagte, dass er
eigentlich die ganze Partie nicht so richtig verstanden
habe, lässt ja Vermutungen in diese Richtung anstellen.
Sind wir wirklich schon so weit?
Ich wage es zu bezweifeln. Es gilt immer noch, dass der
Alpha-Beta auch in ausgereifter Form und auch auf super-
schneller Hardware unter dem Horizonteffekt leidet, der die
obligatorischen Eröffnungsbücher und Endspieldatenbanken in
ernsthaften Partien unvermeidbar macht. Solange also im
Bereich der Engines keine Perfektion herrscht, wird es immer
möglich sein, die Züge der Rechner zu hinterfragen, und
genau das ist es, was von den meisten Beteiligten meiner
Meinung nach zu wenig gemacht wird. Das ist natürlich mit
inmmensem Aufwand verbunden und erfordert auch technisches
Hintergrundwissen, z.B. über die Tatsache, dass es bei der
eigenen Engine-unterstützten Suche möglich ist, den Hash-
speicher in den Schachprogrammen besser auszunützen, sei es
durch Rückwärtsanalyse oder durch Einsatz des Multi-
variantenmodus, um nur mal zwei wichtige Details zu nennen.
In der heutigen Live-Übertragung der WM wurde erwähnt, dass
die derzeitige Arbeit eines Grossmeisters immer mehr
derjenigen eines normalen Angestellten ähnelt, der ja auch
den ganzen Tag lang vor dem Computer sitzt.
Vielleicht kommt es wirklich nur darauf an, die neuen
Technologien richtig einzusetzen, um das Schach auf bis
unbekannte Qualitätshöhen zu treiben.
Ein Beispiel, das zwar schon über 12 Jahre alt ist, aber
immer noch zeigt, was möglich ist, wenn Menschen sich im
Schach wirklich Mühe geben, ist die historische Partie aus
dem Jahre 1999, Kasparov vs. The World:
Code:
[Event "Kasparov vs the World"]
[Site "Internet"]
[Date "1999.10.22"]
[EventDate "?"]
[Round "?"]
[Result "1-0"]
[White "Garry Kasparov"]
[Black "The World"]
[ECO "B52"]
[WhiteElo "?"]
[BlackElo "?"]
[PlyCount "123"]
1. e4 c5 2. Nf3 d6 3. Bb5+ Bd7 4. Bxd7+ Qxd7 5. c4 Nc6 6.
Nc3 Nf6 7. O-O g6 8. d4 cxd4 9. Nxd4 Bg7 10. Nde2 Qe6 11.
Nd5 Qxe4 12. Nc7+ Kd7 13. Nxa8 Qxc4 14. Nb6+ axb6 15. Nc3
Ra8 16. a4 Ne4 17. Nxe4 Qxe4 18. Qb3 f5 19. Bg5 Qb4 20. Qf7
Be5 21. h3 Rxa4 22. Rxa4 Qxa4 23. Qxh7 Bxb2 24. Qxg6 Qe4 25.
Qf7 Bd4 26. Qb3 f4 27. Qf7 Be5 28. h4 b5 29. h5 Qc4 30. Qf5+
Qe6 31. Qxe6+ Kxe6 32. g3 fxg3 33. fxg3 b4 34. Bf4 Bd4+ 35.
Kh1 b3 36. g4 Kd5 37. g5 e6 38. h6 Ne7 39. Rd1 e5 40. Be3
Kc4 41. Bxd4 exd4 42. Kg2 b2 43. Kf3 Kc3 44. h7 Ng6 45. Ke4
Kc2 46. Rh1 d3 47. Kf5 b1=Q 48. Rxb1 Kxb1 49. Kxg6 d2 50.
h8=Q d1=Q 51. Qh7 b5 52. Kf6+ Kb2 53. Qh2+ Ka1 54. Qf4 b4
55. Qxb4 Qf3+ 56. Kg7 d5 57. Qd4+ Kb1 58. g6 Qe4 59. Qg1+
Kb2 60. Qf2+ Kc1 61. Kf6 d4 62. g7 1-0
Es handelt sich hier um ein sogenannte
Beratungspartie, in
der Kasparov gegen alle interessierten Internetbenutzer
antrat. Ich habe damals auch mit abgestimmt und war
frustriert, als die Welt nur wegen Abstimmungsmanipulationen
das Remis nicht halten konnte. Wer mehr dazu erfahren
will, dem empfehle ich den
deutschen oder
englischenWikipediabeitrag, wobei der englische viel besser ist, weil
er alle Züge kommentiert und auch auf den Abstimmungsskandal
eingeht, darüber kann man
hier weiteres auf Deutsch erfahren.
Damals gab es noch kaum 6-Steiner-Endspieldatenbanken, heute
ist bewiesen, dass die Welt z.B. durch 51... Ka1! das Remis
hätte halten können.
Nun ja, für alle, die die heutigen Engines testen wollen,
welche von ihnen findet 35. Kh1!! in folgender Stellung:
Die Welt rechnete damals nur mit 35. Kg2, das dem Turm, wenn
er denn auf g1 erscheint, die g-Linie versperren würde,
Kasparov's Zug, der auf einer tiefen Analyse beruht,
vermeidet diese wichtige Sachlage.
In diesem Sinne hat das Computerschach das Schachspiel an
sich nicht einfacher gemacht, denn es erfordert erhöhte
Anstrengungen, heutige Engine-Ausgaben mit Erfolg
anzuzweifeln (natürlich können die Engines selbst dabei
helfen). Aber am Ende gewinnen diejenigen, die sich darum
bemühen, auch tiefere Einsichten in das Königliche Spiel.
Viel Spass,
Thomas